Der Schattenesser by Meyer Kai

Der Schattenesser by Meyer Kai

Autor:Meyer, Kai [Kai, Meyer,]
Format: epub
veröffentlicht: 2010-09-22T09:02:51.029000+00:00


Es war kurz vor Mittag, die Sonne schien kreidig durch grauen Nebeldunst. Die meisten Söldner lagen noch betrunken in ihren Quartieren oder unter den Torbögen, kaum einer streifte durch die Straßen. Die meisten Gassen und Plätze waren verlassen. Nur selten entdeckte Sarai auf ihrem Weg ein fahles Gesicht hinter Fensterscheiben, Blicke aus verkniffenen Augen, die ihr misstrauisch folgten.

Der schlichte, rechteckige Bau der Altneu-Synagoge lag inmitten der engen Judenstadt. Der Platz, auf dem sie stand, war winzig, kaum mehr als vier Straßen, die sich an allen Seiten um das Gebäude zogen, nur unmerklich breiter als die angrenzenden Gassen. Die Synagoge besaß an ihren beiden Stirnseiten hohe, mit Ziegeln verkleidete Giebel, ihre Außenmauern wurden von abgeschrägten Stützpfeilern gehalten.

Die morgendliche Lesung der Thora war längst beendet. Durch das offene Portal sah Sarai, dass niemand sich im Hauptraum der Synagoge aufhielt. Das war gut so, denn Frauen war das Betreten während des Gottesdienstes verboten.

Sarai wusch sich im Vorraum an einem Wasserbecken die Hände, dann trat sie in den Saal. Durch zehn schmale Fenster fiel schwacher Tagesschimmer, zwei weitere waren zugemauert; insgesamt ergab sich so die Zahl der zwölf Stämme Israels. An der gegenüberliegenden Stirnseite befand sich ein prachtvoll verzierter Schrein, der Aron ha-Kodesch, in dem die Thora-Rolle aufbewahrt wurde. Davor brannte das Ner Tamid, das Ewige Licht. Die Mitte des Saales nahm das von einem hohen Gitter umschlossene Podium ein, auf dem für gewöhnlich die Lesung stattfand; alle Sitzgelegenheiten im Saal, Steinbänke wie Holzstühle, waren dorthin ausgerichtet.

Im Vorraum erklangen Schritte auf dem Steinfußboden. Das musste der Rabbi sein. Sarai huschte hinter eine der beiden großen Säulen im Saal und hielt den Atem an. Der Rabbi trat mit wehendem Gewand an ihr vorüber und bemerkte sie nicht. Nachdem er vorbei war, schlich sie aus ihrem Versteck hervor, verließ ungesehen den Saal und suchte jene Tür, hinter der die Treppe zum Dachboden liegen musste. Sie fand sie schneller als erwartet, drückte sich hindurch und zog sie hinter sich zu. Niemand hatte ihr Eindringen bemerkt. Wachtposten hatten sich schon zwei Tage eher als nutzlos gegen die plündernden Söldner erwiesen, doch nachdem die wertvollsten Gegenstände fortgeschleppt worden waren, ließ man die jüdischen Gotteshäuser in Frieden. Keiner rechnete mehr mit neuerlichen Einbrüchen, schon gar nicht in den leeren Speicher, was Sarai nun zugute kam.

Sie stieg sehr langsam die dunkle Treppe hinauf. Es war nahezu stockfinster in dem engen Schacht. Die Stufen endeten vor einer weiteren Tür. Sie war halbherzig durch einen hölzernen Riegel von außen verschlossen, als wollte man verhindern, dass etwas vom Inneren des Dachbodens nach draußen gelangte. Sarai fand das merkwürdig. Niemanden, nicht den kraftlosesten Schwächling, hätte ein Riegel dieser Art aufgehalten. Vielleicht, so überlegte sie, besaß er eine symbolische Bedeutung, wie so vieles in den Synagogen.

Sie schob den Riegel beiseite und trat auf den Dachboden. Muffige, abgestandene Luft drang ihr entgegen. Graues Dämmerlicht, wie durch tausend Spinnweben gefiltert, umriss eine gähnende Leere. Nichts befand sich hier oben, kein Mensch, nur eine steile Leiter, die zu einer Dachluke führte. Die beiden Schrägen liefen steil nach oben und berührten sich hoch über ihr im Dunkeln.



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